Gastvortrag Frank Heidlberger: De rebus prius factis
Ernst Kreneks elektronisches Oratorium Spiritus intelligentiae und die Funktionalisierung des Serialismus in seinem Schaffen
Ernst Kreneks Rolle als Vertreter des Serialismus kann in verschiedene Epochen gegliedert werden: in seiner Wiener Zeit wandte er sich Schoenbergs Zwölftontechnik zu und schrieb nach eigenem Bekunden mit Karl V. die erste vollständige Zwölftonoper; während seines amerikanischen Exils trieb er serialistische Kompositionsverfahren voran, so etwa in seinem Chorwerk Lamentatio Jeremiae (1940), in dem er das Rotationsprinzip als Organisationsmittel anwendet, sowie die Zeit nach 1945, während der er sich dem totalen Serialismus nach dem Vorbild von und in unmittelbarem Kontext der Darmstädter Schule zuwandte. Im Jahr 1956 nahm er ein älteres Projekt aus seiner amerikanischen Zeit wieder auf, das Oratorium Spiritus Intelligentiae, das er nun auf Einladung Herbert Eimerts im elektronischen Studio des WDR als Stipendiat realisierte.
Umfangreiches Skizzenmaterial, Reihenberechnungen und schriftliche Entwürfe der zugrundeliegenden Ideen und Textquellen lassen erkennen, dass es sich bei diesem Werk um eine experimentelle Annäherung an Kreneks universalistisches Denken über Musik, deren serielle Konstruktion, Notation, Wiedergabe und Ausdruck handelt.
Der Vortrag stellt diese Kontruktionsprinzipien, basierend auf den handschriftlichen Quellen, vor und diskutiert Kreneks Handeln aus erkenntnistheoretischer Perspktive. Eine zur gleichen Zeit (1956) entstandene Theorieschrift, De rebus prius factis erhellt den Zusammenhang von strukturellen, philosophischen und historischen Kategorien, wie sie typisch für Kreneks Denken sind. In seiner Schrift sowie in diesem kompositorischen Versuch – denn das Oratorium blieb unvollendet – entwickelt Krenek eine Dialektik der musikalischen Organisation. Serielle Technik und das elektronische Medium erlauben ihm, diese Dialektik auf verschiedenen Ebenen zu realisieren: totale Organisation versus Unvorhersehbarkeit, strukturelle Determinierung versus Expressivität, Exaktheit der Aufführung versus Zufall. Mit in diesen Kontext gehört auch eine musikhistorische Dimension, die der Komponist anhand von Ockeghem und Webern exemplifiziert. Dieser Kontext wird in Beziehung zu Kreneks aktueller Lebenssituation gesetzt, als Kriegexilant und Rückkehrer sowie für den Rest seines Lebens als Pendler zwischen den westlichen Kulturen beiderseits des Atlantiks.
Frank Heidlberger ist Professor für Musiktheorie an der University of North Texas. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt im Bereich der Geschichte der Musiktheorie sowie der Musik und Musiktheorie des 19. und 20. Jahrhunderts. Er ist Herausgeber der Zeitschrift Theoria. Historical Aspects of Music Theory, und er publizierte Bücher und Aufsätze zu Hector Berlioz, Carl Maria von Weber, Anton Reicha und Giacomo Meyerbeer sowie zu Richard Strauss, Paul Hindemith, zur Instrumentalmusik des 16. und 17. Jahrhunderts und zur medialen Präsentation der Oper. Seine kommentierte Neuedition der Memoiren von Hector Berlioz (Bärenreiter 2007) erfuhr ein intensives Echo. 2011 veröffentlichte er für die Carl Maria von Weber-Gesamtausgabe die Werke für Klarinette und Orchester (Schott). Für Henle edierte er 2015 Mendelssohns Konzertstücke für Klarinette, Bassetthorn und Klavier. Das zweibändige Lexikon des Orchesters, das er gemeinsam mit Gesine Schröder und Christoph Wünsch edierte, erschien 2021 im Laaber-Verlag. Heidlberger ist als Klarinettist und Saxophonist in den Bereichen Jazz und experimentelle Musik tätig.